56. VENEDIG BIENNALE 2015 – TEIL 4: Die Stadt

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Kaum ein Ort hat die Gemüter mehr angeregt und fasziniert  als Venedig. Die Stadt steht als Sinnbild für Melancholie, Verfall und Dekadenz. Ihr Besuch gehört zu den wenigen Erlebnissen, die sich ins Gedächtnis einbrennen werden. Wer diesen surrealen Ort zum ersten mal betritt, wird den Moment nie vergessen, statt Straßen nur Wasser vorzufinden.

Zufahrt zum Canale Grande, der Hauptstraße Venedigs.

 

Und wer glaubt, sich endlich auszukennen wird sich dennoch wieder verlaufen im undurchschaubaren Labyrinth enger Gassen.

Wo sonst Pflastersteine wären, ist hier Wasser…

 

Alles schwankt ganz unmerklich und man hat das Gefühl als würde man gar nicht auf dieser Welt sein, sondern schweben. Venedig erscheint als ein Ort der Phantasie, eine Imagination – zumindest für jene Besucher, die sensibel genug sind, die Geschichte und die Poesie der alten Mauern zu begreifen.

Die Seufzerbrücke bei Nacht

 

„Ich weilte auf Venedigs Seufzerbogen,
ein Kerker, ein Palast zu jeder Hand;
Ich sah die Bauten steigen aus den Wogen
wie Zaubrers Blendwerk; Ein Jahrtausend stand
vor mir, die dunklen Flügel ausgespannt;
Sterbender Glanz umfloß die sieggewohnte versunk’ne Zeit,
da manch bezwung’nes Land dem Marmorsitz des Flügellöwen fronte,
wie stolz Venezia auf hundert Inseln thronte.“

– Lord Byron –

„So ist Venedig, die Schöne, schmeichelnd und verdächtig, Legende und Falle für die Fremden“, schrieb Thomas Manns in seiner Novelle „Tod in Venedig“.

 

Venedig lockt Jahr für Jahr Millionen Menschen an. Sie ist eine einzigartige Touristenattraktion und bietet die perfekte Kulisse für alle möglichen Events: vom berühmten Karneval mit seinem elitären Dogenball für botoxgeschwängerte Millionärsgattinnen, über die jährlich stattfindende Regata storica, das Festa del Redentore (das Erlöserfest) welches von einem aufwendigen Feuerwerk begleitet wird, über die Filmfestspiele, die Tanzbiennale, die Architekturbiennale und schließlich die Kunstbiennale. Über 30 Millionen Besucher zählt Venedig jährlich, davon zehntausende Tagestouristen, die auf hochhausgroßen Kreuzfahrtschiffen anreisen und abends von den riesigen Monstern wieder eingesaugt werden.

Die Möwe läßt der Besucheransturm kalt.

 

Zeichen des öffentlichen Protests: Anwohner wehren sich gegen den Ausverkauf ihrer Stadt.

 

„Das Herz verkauft man nicht“ steht auf der roten Plane an der alten Fischmarkt-Halle. Sie ist das Herz Venedigs, hier verkaufen die Fischer ihren Fang und hier kaufen die Venezianer ein. Doch wie viele andere öffentliche Orte sollte auch dieser Ort ausgetilgt werden. Vor einigen Jahren wurde die alte Post, ein stattliches Gebäude direkt am Canale Grande, von der Benetton-Group aufgekauft. Dasselbe Schicksal ereignete auch Krankenhäuser und andere Gebäude des öffentlichen Lebens, die nun in Hand privater Investoren sind oder zu Investitionsruinen verkommen. Die Infrastruktur wird durch den Verkauf öffentlicher Orte nach und nach ausgedünnt und zwingt die Bewohner, die Altstadt zu verlassen.

Venedig ist als Zweitwohnsitz für Gut betuchte beliebt. Ihre Wohnungen stehen die größte Zeit des Jahres leer.

 

Steigende Immobilienpreise sind ein weiterer Grund für die stetige Abwanderung. Der Quadratmeterpreis  liegt inzwischen bei 12.000 Euro, viermal höher als der durchschnittliche Preis für Immobilien in Italien. Damit steigen auch die Mieten jährlich an. Venezianer, die keine eigene Wohnung besitzen, können die erhöhten Mieten oft nicht mehr bezahlen und müssen in das industriell geprägte Umland umziehen, in unpersönliche, kühle Neubauten ohne Leben und Geschichte – ein Bruch, der für viele sehr schwer ist. Ihre ehemaligen Wohnungen hingegen bleiben die meiste Zeit des Jahres unbewohnt oder dienen fortan als Touristenbleibe.

Wäscheleinen in den Gassen – ein typischer Anblick in Venedig. Und bald ein seltener?

 

Mit dem Wegfall öffentlicher Strukturen wird das Leben deutlich komplizierter – wo soll man einkaufen, wo zum Arzt oder in die Schule gehen, wenn alles nur noch auf Tourismus ausgelegt ist?  Die Mieten steigen, die Infrastruktur fällt weg, die Jobaussichten sind schlecht und immer mehr Leute ziehen aufs Festland. Es gibt noch ein paar alte Menschen, die nicht mehr wegziehen werden, die ihre lauten Radios am offenen Fenster laufen haben während sie Pasta kochen, und ihre bunte Wäsche zum Trocknen raushängen – doch wie wird Venedig aussehen, wenn all das fehlt eines Tages? Wenn die Bewohner und mit Ihnen das Leben aus der Stadt verschwunden ist?

 



Alte, originelle Läden und Orte, die eine Geschichte erzählen…

 

…weichen dem geistlosen Touristen-Entertaining, unpersönlichen Snackbistros und trivialen Läden, die mit Venedig nichts mehr zu tun haben.

Hornhaut-Spa für die müden Füße

 

Venedig wird zur Fassadenstadt ohne Einwohner, eine Schlafstadt, in der es keine Venezianer mehr gibt. Eine Art „Disneyland für Touristen“ heißt es im Film „Das Venedig Prinzip“, die zu Tausenden mit Selfiestick bewaffnet die Stadt stürmen und alles nur noch durch das Display wahrnehmen. Für viele dieser Besucher scheint es kaum eine Rolle zu spielen, ob der Charme und die Authentizität  einer Stadt verloren gehen, denn sie sind sowieso nicht wirklich anwesend.

Erschöpfte Touristen am Piazza San Marco.

 

Für Details wie den kunstvollen Türknauf…

 

…oder die zahlreichen Heiligenskulpturen in den Gassen haben die meisten keine Zeit.

 

Der Löwe – Wahrzeichen Venedigs – blickt in eine ungewisse Zukunft.

 

Auf der berühmten Rialtobrücke drängen sich Souvenirläden dicht aneinander, die billig importierten Schmuck, Masken und Glaswaren verkaufen – und damit die lokalen Hersteller verdrängen.

 

Original venezianisches Handwerk hat es inzwischen schwer.

 

Diese Version von Munch´s „Schrei“ offenbart das Gefühl des venezianischen Glasbläserhandwerks: Kunstwerke aus der berühmten Glasmacher-Insel Murano werden immer seltener – billige Imitate sorgen für den Untergang einer alten Tradition.

 

seltener Anblick: ein Gondoliere ohne Gäste an Bord


„Verstummt sind in Venedig Tassos Lieder;
Still rudert, ohne Sang, der Gondolier;
Paläste bröckeln auf das Ufer nieder,
Und selten tönt Musik durch das Revier.
Die Zeit ist hin, doch weilt noch Schönheit hier.
Staaten vergehn, die Kunst sinkt in Verfall,
Nur die Natur ist ewig, und vor ihr
Ist noch Venedig für die Völker all
Der Tummelplatz der Lust, Italiens Karneval.“

– Lord Byron –

Original venezianische Glasbläserkunst

 

traditionelles Maskenhandwerk

 

Das Pinocchio- Syndrom: Würde nur allen korrupten Entscheidungsträgern, die den Ausverkauf der Stadt zu verantworten haben, eine lange Nase wachsen…

 

Neben der Korruption im Immobilienmarkt, der den Ausverkauf öffentlicher Gebäude möglich macht, und der zunehmenden Anzahl der Billigläden sind das eigentliche Problem die riesigen Kreuzfahrtschiffe, die sehr dicht an die Stadt heranfahren, um so nah wie möglich am zentralen Piazza San Marco ankern zu können.

Ein Kreuzfahrt-Riese bei den Giardini

 

Durch den unruhigen Wellengang und die damit verbundene starke Wasserschwankung wird der Mörtel der Jahrhunderte Jahre alten Gebäude ausgewaschen und sie werden an ihrer empfindlichsten Stelle verwundbar: ihrem Fundament, das auf uralten Eichenstämmen gebaut ist. Sanierungsmaßnahmen finden meist nur provisorisch statt, was im Widerspruch steht zu den extrem  hohen Immobilienpreisen. Oft fehlt das Geld oder der Wille für eine mit hohen Kosten verbundene Instandsetzung und so wird nur dürftig das Nötigste repariert – die alten Mauern zerbröseln langsam weiter.

Venedigs Fundament sinkt jedes Jahr um einige Millimeter- nichts im Vergleich zu den Schäden, die riesige Kreuzfahrtschiffe anrichten.

 

Es sind nicht Naturgewalten, die Venedig zu Fall bringen, sondern menschgemachte Probleme, die auch von Menschen behoben werden können.

Gewitterstimmung am Canale Grande

 

Die Einnahmen aus der milliardenschweren Tourismus- Industrie müssen endlich dem Erhalt der Stadt und seinen Einwohnern zugute kommen und dürfen nicht weiter zum größten Teil in eine Handvoll privater Taschen fließen. Eine strenge Denkmalschutzauflage und gerechte Mietpreiskontrolle muß der Pfuscherei im Immobilienwesen entgegenwirken und die Mieten für Einwohner bezahlbar lassen. Der Verkauf von importierten Billigimitaten muß verboten werden, um den lokalen Handel wieder eine Chance zu geben. Vor allem aber sollte eine Bannmeile um die Lagunenstadt geschaffen werden, die Kreuzfahrtschiffe und zu schnelle Motorboote nicht überschreiten dürfen, um die sensiblen Fundamente der Gebäude nicht mehr zu gefährden. Die Bevölkerung Venedigs, oder was davon noch übrig ist, muss sich stark machen für ihre Rechte und der alles vernichtenden Korruption entgegenwirken – durch Protestaufrufe, Streiks und Aktionen, die empfindliche Stellen berühren und Aufmerksamkeit schaffen. Sie müssen das Problem in die Welt tragen und den Menschen sagen:

„Venedig ist unsere Stadt – ein seltener Schatz, ein sensibles Erbe, das es zu bewahren gilt – und wir werden es bewahren!“

Am Ende sitzen wir alle im selben Boot und müssen verantwortungsvoll mit unserem Erbe und unserer Zukunft umgehen.

 

 

Links:

Sehr sehenswert:  „Das Venedig Prinzip“ http://venedigprinzip.de/

Blog-Sammlung “ Venedigs Ausverkauf“ http://www.petrareski.com/tag/venedigs-ausverkauf/

 

56. Venedig Biennale 2015

Das war der letzte Teil des Venedig-Blogs

Fotos: © Ulrike Theusner